Stand: 18:08 Uhr
Der Umgang der Behörden mit dem mutmaßlichen Täter rückt Tage nach der tödlichen Messerattacke in einem Regionalzug im schleswig-holsteinischen Brokstedt verstärkt in den Blickpunkt. So wirft der Resozialisierungsexperte Bernd Maelicke der Hamburger Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) im „Hamburger Abendblatt“ vor, das 2019 beschlossene Hamburger Gesetz zu Resozialisierung und Opferschutz (ResOG) ignoriert zu haben.
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Das Gesetz soll verhindern, dass Ex-Häftlinge in ein „Entlassungsloch fallen“, wenn sich die Gefängnistore öffnen. Gallina kenne es offensichtlich nicht, jedenfalls könne es nicht angewendet worden sein, sagte der Jurist Maelicke, der Initiator mehrerer Landes-Resozialisierungsgesetze ist, der Zeitung. „Sie trägt als Senatorin die Verantwortung“.
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Bei der Tat in der Regionalbahn von Kiel nach Hamburg starben zwei Menschen, fünf wurden schwer verletzt. Gegen Ibrahim A. wurde Haftbefehl wegen zweifachen Mordes und versuchten Totschlags in vier Fällen erlassen. Erst wenige Tage vor der Bluttat im Regionalzug war A., ein 33 Jahre alter staatenloser Palästinenser, in Hamburg aus der Untersuchungshaft freigekommen.
Auch für den Hamburger CDU-Fraktionschef Dennis Thering zeigt der Fall aufs Neue, dass die Hamburger Justiz völlig überfordert und Gallina der Aufgabe nicht gewachsen sei. „Sie taucht einmal mehr ab, statt Antworten zu geben und Probleme zu lösen“, kritisiert Thering im „Hamburger Abendblatt“. Erste Antworten erwartet er am Donnerstag im Justizausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft. Die Senatorin hatte angekündigt, dort zu den Hamburger Aspekten der Tat zu berichten.
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Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht im Deutschen Anwaltverein (DAV), Thomas Oberhäuser, verneinte am Samstag hingegen im Deutschlandfunk die Frage, ob Justiz und Verwaltung die Tat hätten verhindern können. Er verwies auf rechtliche Abwägungen und Vorgaben in Untersuchungshaft-Fällen. Justiz und Verwaltung hätten allenfalls die Tat dadurch verhindern können, dass sie ihn weiterhin in Untersuchungshaft gehalten hätten, so Oberhäuser. „Aber da hat die Justiz entschieden, dass das unverhältnismäßig gewesen wäre angesichts der ihm vorgeworfenen Tat.“
Nach Angaben Maelickes schreibt Paragraf 9 des Hamburger ResOG einen verbindlichen Eingliederungsplan vor mit Regelungen zur sozialen Situation, zum Aufenthaltsort, zu Suchtverhalten und zur Sicherung des Lebensunterhalts. „Auch die im Gesetz vorgesehenen Maßnahmen zur Prävention sind in diesem Einzelfall nicht erkennbar“, kritisierte er.
Das Motiv des Tatverdächtigen ist unterdessen weiter unklar. Ibrahim A. hat nach Angaben seines Anwalts beim Haftrichter-Termin keine Aussagen zur Sache gemacht. Nach Vorliegen von Ermittlungsergebnissen werde er mit seinem Mandanten sprechen, sagte Anwalt Björn Seelbach.
Vermieter fordern mehr Engagement
Die sozialen Vermieter Norddeutschlands haben von der Politik mehr Unterstützung bei der Integration von Flüchtlingen gefordert. Die im Verband norddeutscher Wohnungsunternehmen (VNW) organisierten Unternehmen erlebten „in Teilen ihrer Quartiere Armut, Ausgrenzung und soziale Perspektivlosigkeit“, teilte VNW-Direktor Andreas Breitner am Sonntag in Hamburg mit. In den vergangenen Jahren seien Parallelgesellschaften entstanden. Außerdem träfen infolge der Zuwanderung in „unseren Wohnvierteln vermehrt unterschiedliche Kulturen aufeinander, was zu Konflikten führt“. Die sozialen Vermieter würden zu oft mit diesen Problemen allein gelassen.
Angesichts der gewaltsamen Tumulte in der Silvesternacht in Berlin, der Messerattacke im Zug bei Brokstedt (Schleswig-Holstein) und der Proteste gegen eine geplante Flüchtlingsunterkunft in Upahl bei Grevesmühlen (Mecklenburg-Vorpommern) sollten die zuständigen Politikerinnen und Politiker die dahinterstehenden sozialen Probleme ernsthaft angehen, forderte Breitner. „All die Täter, die egal aus welchen Motiven auch immer, Gewalt ausüben, wohnen in Deutschland, in Gemeinden oder Städten, haben Nachbarn und leben mitten unter uns. Betroffenheit und Mitgefühl sind in solchen Situationen enorm wichtig: Aber wie geht es weiter?“ Reflexartig zu fordern, dass der Staat mehr „harte Kante“ zeigen müsse, reiche nicht.